Willkommen bei der Geschichte des Klaviers mit der Seriennummer 834 hergestellt von dem Würzburger Klavierhersteller Philipp Gilgen. Unser Klavierbauer war laut dem Atlas der Pianonummern von 1849 bis 1893 aktiv. Bei dem Instrument handelt es sich um
Aufgrund dieser heute selten anzutreffenden Kombination gehe ich davon aus, dass das Klavier deutlich vor 1893 gebaut worden ist. Das Piano ist relativ gut erhalten. Das heißt,
Doch der Blick von oben auf die Stimmnägel und Saiten spricht eine andere Sprache. Denn im Diskant sieht man einige fehlende Saiten sowie zwischen den Saiten grüne Filze, mit denen offensichtlich nicht mehr stimmbare Einzelsaiten stumm gemacht worden sind. Tatsächlich zeigt ein genauer Blick auf die betroffenen Stimmnägel, dass diese bereits mit dem unteren Saitenring auf der Oberfläche des Stimmstocks aufliegen. Hier ist das Limit bereits erreicht, der Spielraum für die einfache Problemlösung ist bereits ausgeschöpft. Der Grad der Verstimmung lässt sämtliche Alarmglocken im Gehirn eines Klavierstimmers angehen, denn die Vielzahl der kritischen Einzeltöne sowie zahlreiche Nachbartöne auf der gleichen Tonhöhe lassen einen massiven Schaden zwingend erscheinen. Instinktiv wird ein erster Fluchtimpuls aktiviert. Die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Lösung ist gering. Der Aufwand in jedem Fall hoch. Selbstverständlich nehme ich die Herausforderung an. Ich ahne, dass sich der Aufwand im Erfolgsfall in mehrfacher Hinsicht lohnen könnte. So kann ich möglicherweise selbst etwas Neues entdecken, und im Nachhinein anderen über die Geschichte dieses Klaviers berichten. Und noch weiß ich nicht wirklich, ob der Zustand tatsächlich so schlimm ist, wie sich das Klavier anhört. Schon zu viel habe ich diesbezüglich an Überraschungen erlebt. Also mache ich mich auf den Weg. Ich werde um das Pianoforte kämpfen.
Mich interessieren Antworten auf die folgenden Fragen: Warum sich jemand ein altes Klavier in offensichtlich zumindest kritischem Zustand kauft? Was sind das nur für Menschen? Lieben sie das Risiko? Zocken sie an der Börse? Nun, die Käufer des Klaviers aus diesem Hörbeispiel sind ein junges Paar, die beide in Würzburg studieren. Intelligente und sensible Zeitgenossen. Waren sie sich des Risikos bewusst? Ja, spätestens nach dem Gespräch mit einem Fachmann, der das Klavier kannte. Er warnte eindringlich vor dem erhöhten Stimmaufwand, der mit dem alten Piano verbunden sei. Was meinte er damit? Die Stimmnägel würden bei diesem Modell noch im Holz stecken und daher würde sich das Klavier wesentlich schneller verstimmen. Aha, sage ich und erkundige mich genauer nach dessen fachlichen Hintergrund. Denn die Stimmnägel stecken ja auch heute noch im Holz. Es gibt lediglich Varianten in der Gussplatte, ob diese nämlich den hölzernen Stimmstock verdeckt oder nicht. Das ist der Versuch der psychologischen Beeinflussung verbunden mit einer Lügengeschichte, um doch noch den Verkauf eines Instruments aus dem eigenen Bestand zu generieren. Unser junges Paar fühlt sich auch prompt schlecht. Haben wir das Risiko unterschätzt? Wo kann man nur eine unabhängige Hilfe, einen ehrlichen Rat und im Idealfall konstruktive Hilfe finden? Bei dem soeben erwähnten Fachmann aufgrund seines Interessenkonflikts zwischen Service und Verkauf scheinbar nicht. Sie finden die überregionale Klavierstimmerei Praeludio®.
Nachdem ich die Klaviergeschichte kennen gelernt habe, ermutige die jungen Leute, sich um Führungspositionen zu bemühen. Denn genau an diesen Eigenschaften mangelt es unserem derzeitigen Führungspersonal in jeder Hinsicht: Mut zum Risiko verbunden mit einem integrierenden und somit ganzheitlichen Denken. Denn trotz des Risikos kaufte das junge Paar ein altes Klavier, das jetzt friedlich direkt neben den großen Lautsprechertürmen sowie dem dem modernen Flachbildschirm steht. Mit anderen Worten: In dieser Wohnung sind Tradition und Moderne vereint. Hier wird das Sowohl-als-auch gelebt, anstatt sich durch ein Entweder-oder in seinen Möglichkeiten zu begrenzen.
Das Klavier ist ein Geradsaiter. Das heißt, die Saiten verlaufen alle in eine Richtung und haben auf dem Steg sowie vor allem auf dem darunter liegenden Resonanzboden wenig Raum, um Eigenresonanzen zu erzeugen. Das war die Vorstellung der Klavierbauer um 1870, die dazu geführt hat, dass man den Kreuzsaiter erfand. Hier überkreuzen sich die Saiten des Bass- sowie der Diskantbereichs. Die Saiten liegen auf zwei voneinander räumlich deutlich getrennten Stegen. Das Modell des Geradsaiters erfährt im Una-Corda-Piano von David Klavins aktuell eine Renaissance und wird vermutlich in Zukunft wieder häufiger zu sehen sein.
Unser Klavier hat eine so genannte Oberdämpfermechanik. Hier sitzt der Dämpfer oberhalb des Klavierhammers. Da diese Dämpfung meist nicht sehr gut funktioniert, hat man die Dämpfung unterhalb des Hammers in Richtung der Saitenmitte neu positioniert. Dadurch wurde die Dämpfung im Wirkungsgrad verbessert. Jedoch hat sich die Spielart verschlechtert. Denn bei der heute üblichen Unterdämpfermechanik muss ich - wie beim Keyboard ohne eine physikalische Mechanik als Gewicht am Ende der Taste - eine Federkraft überwinden, nämlich die Kraft der Feder, die die Unterdämpfung gegen die Saite presst. Bei der Oberdämpfung wird die Dämpfung ähnlich wie beim Flügel nur mit Gewichten gegen die Saite gedrückt. Daher muss ich beim Spielen der Taste bei diesen Klavieren eben wie beim Flügel auch nur Gewichte überwinden, was das Spielgefühl authentischer macht.
Das Instrument aus unserem Hörbeispiel ist ein Muster für eine ausgezeichnet funktionierende Oberdämpfung. Das ist tatsächlich eine absolute Rarität. Denn wäre das früher öfters so zu lösen gewesen, hätte man die Unterdämpfung ja gar nicht erfinden müssen. Die Tatsache, dass es eine Oberdämpfung vollständig ohne den so genannten Nachklang gibt, ist auch für mich überraschend. In der ersten gestimmten Aufnahme, die oben an dritter Stelle steht, hört man ab Sekunde 48 bis 52 das Ausklingen der letzten Töne. Dann hört man deutlich an einem Knackgeräusch das Auslassen des Pedals - und danach den für Oberdämpfer typischen Nachklang. Die letzte (vierte) Aufnahme ist entstanden, da ich den Una-Corda-Pedal-Effekt mit Video aufnehmen wollte. Dabei hat sich nach der ersten Hälfte meines üblichen Probespiels zu Beginn des Praeludiums die Mechanik aus ihrer Befestigung gelöst. Ich stand auf, nahm einen Schraubenzieher, befestigte die Mechanik wieder und setzte mein Probespiel fort. Am Ende des Praeludiums hört man wieder das Ausklingen und dann hatte ich Lust, den Nachklang zu testen, indem ich abrupt das Tonhaltepedal ausgelassen habe. Und siehe da, das Klavier ist absolut stumm. Keinerlei Nachklang! Sensationell!
Eine weitere Sensation ist das Una-Corda-Pedal. Dieses Pedal ist heute nur noch im Flügel zu finden. Dort wird es als Standard eingebaut. Das Una-Corda-Pedal war schon früher im Klavier eine Rarität. Die technische Lösung der Verschiebung der Hammerleiste zur Seite muss für die Klavierbauer in der Zeit vor und um 1900 eine Herausforderung gewesen sein. Wer sich darum bemüht hat, war ein Überzeugungstäter. Denn er war überzeugt, dass die seitliche Verschiebung im Vergleich zur Hammerwegverkürzung die bessere Technologie zum Erreichen eines leiseren Tons ohne Veränderung der Spielart ist. Im folgenden Video versuche ich das Pedal zu demonstrieren. Dabei habe ich den Vorteil, auf die sich verschiebende Mechanik schauen zu können. Denn die vom Hersteller gewählte Einstellung ist insofern problematisch, als die Verschiebung soweit geht, dass man nicht nur einen Ton sondern auch gleich den Nachbarton anschlägt. Da ich nicht immer den optimalen Punkt treffe, hören Sie tatsächlich gelegentlich seltsam klingende Töne. Um das gleichzeitige Anschlagen von 2 Tönen zu Vermeiden, muss man den Einsatz des Pedals dosieren. Mein Bemühen um den sensiblen Mittelweg erkennen Sie an meinem konzentrierten Blick auf die Mechanik. Darüber hinaus bin ich natürlich ungeübt in der 4. Dimension des Klavierspiels, also in der zusätzlichen Verwendung des linken Pedals. Unter den Live-Bedingungen des Klavierservice kann man nicht vor einer Videoaufnahme erst lange üben. Daher war meine Fehlertoleranz gefragt, als ich mich einmal bei der vollständigen Version des C-Dur-Praeludiums aus dem Wohltemperierten Klavier verspielte, einer ausgezeichneten Werbung für die Wohltemperierten Stimmungen, komponiert von Johann Sebastian Bach. Ingesamt ist meine Performance zugegebenermaßen nicht sehr ausdrucksstark, da zu wenig gefühlvoll. Die Absicht, den Unterschied durch die Verwendung des Una-Corda-Pedals zu verdeutlichen, bestimmte meine Konzentration. Alle technischen Fertigkeiten, und dazu zählt offensichtlich auch die Komplexität von Handlungen, müssen erst unterbewusst verfügbar sein, um sie auf der höheren Ebene des ausdrucksstarken Klavierspiels mit Emotionen veredeln zu können.
Der Blick unter den Spieltisch zeigt, dass der Bass-Steg interessanterweise bereits über eine so genannte Bass-Brücke verfügt. Wer meine Hörbeispiele verfolgt, dem ist bekannt, dass es sich hier um eine konstruktive Maßnahme zur Optimierung des Klangs sowie der Stimmbarkeit im Bass handelt. Zum einen wird die Länge der Saiten optimiert. Zum anderen wird die Auflagefläche des Stegs durch die Brücke vom Rand weg in Richtung Resonanzbodenmitte verlagert. Dort kann der Klangkörper besser schwingen und daher klingt der Bass voller.
Nur bei älteren Pianos findet man im Bass gelegentlich einen Druckstab, der heute in der Mittellage sowie im Diskant Standard ist. In unserem Fall ist der Druckstab im Bass unterteilt. Es ist interessant zu beobachten, was es im Verlauf der Zeit für unterschiedliche Konzepte gab. Die heute praktizierten Lösungen müssen nicht zwangsläufig die beste Lösung sein, wie das Beispiel der Oberdämpfermechanik im Zusammenhang mit der Spielart und hier vor allem dem authentischen Spielgefühl zeigt. Offensichtlich gab es früher auch noch mehr Klavierbauer, die ihre eigenen Gedanken in Konstruktionen realisiert haben. Der Mut zu neuen Entwicklungen und eigenen Lösungen scheint sich aktuell auf Japan zu konzentrieren, sieht man einmal von dem Una-Corda-Piano David Klavins ab. Doch genau das zeigt die Bedeutung dieser neuen Idee, die mitten in Deutschland entstanden ist!
Ein letzter Blick auf die Pedale zeigt eine stärkere Abnutzung des rechten Pedals, obwohl unser Klavier von Philipp Gilgen über die im Vergleich zu den heute im Klavier praktizierten Lösungen bessere Variante des Una-Corda-Pedals verfügt.
Und wie verhält es sich nun mit dem Zustand des Stimmstocks? Der scheint bis auf die bereits stumm gemachten Töne in Ordnung zu sein. Warum ich das Klavier auf 397 Hertz gestimmt habe? Da der Zustand mich zu keinem Wagnis hinsichtlich der Tonhöhe animiert hat und die bereits fehlenden Saiten eine Warnung für jeden Klavierstimmer sein müssen. 397 Hertz sind übrigens eine Tonhöhe, die nahe dem vor 300 Jahren in Frankreich üblichen Kammerton liegt. Das waren 392 Hertz. Sicher kann man das in Zukunft verbessern. Dazu habe ich die Klavierbesitzer ausdrücklich ermutigt. Nämlich das Schnäppchen sorgfältig zu behandeln, um in Zukunft eventuell mal in eine Generalüberholung zu investieren.
Aber ich habe auch erwähnt, dass man die weiteren Entwicklung abwarten sollte. Der Ausgang dieser Zukunft ist selten so offen wie heute. Einerseits lassen einen die Panikverkäufe selbst der scheinbar besten Marken ein böses Ende der Klavierkultur in Europa antizipieren. Anderseits machen Entwicklungen wie das bereits erwähnte Una-Corda-Piano von David Klavins oder das TransAcoustic-Piano von Yamaha Hoffnung. Doch die rasante Entwicklung des Computers und die damit aktuell zu verzeichnenden Qualitätssprünge der digitalen Sounds sowie neue Entwicklung einer Klaviatur namens Seaboard von ROlI könnten in Zukunft beim Vergleich mit dem Klavier den entscheidenden Unterschied ausmachen, falls sich außer den Japanern weiterhin alle Klavierbauer der Entwicklung verweigern.
Die Herausforderung für die Klavierbauer würde darin bestehen, ähnlich unserem studierenden Paar Gegensätze zu vereinen: Sowohl die Tradition zu erhalten, als auch die zeitgemäßen Möglichkeiten zu integrieren. Der von Yamaha gewählte Name TransAcoustic-Piano beschreibt den aktuellen Aufgabenkatalog sehr gut. Es geht um die Transformation des Pianofortes, um die Weiterentwicklung zu einem zeitgemäßen Musikwerkzeug. Was es braucht, damit Transformation gelingen kann, beschreibt der Psychologe und Unternehmer, Prof. Dr. Peter Kruse, ausgezeichnet in einem Interview über Kreativität:
Wer sich vor dieser Herausforderung in die Büsche (Chinas) schlagen will, soll ruhig gehen. Wir werden den Schimmels, Grotrians und wie sie heißen mögen, nicht nachtrauern.
Von dem befreundeten Klavierbauer Dieter Gocht, der unter dem gleichen Link mit Dieter's Klavierseiten ein Datenarchiv des Klavierbaus erstellt und frei zugänglich gemacht hat, bekam ich im Juni 2022 neue Daten zum Leben von Philipp Gilgen:
Daraus kann man lesen, das also ein Schreiner sich entschieden hat, seine Berufung in einen gerade entstehenden neuen Markt mit Mehrwert einzubringen. So war das anfangs zwangsläufig, wenn nämlich etwas Neues entsteht, in diesem Fall ein neues Musikinstrument. Dieses neue Instrument verwandelte sich Anfang 1800 vom Hammerklavier zum Pianoforte, nachdem Henri Pape sich 1826 das Überziehen der Holzkerne der Klavierhämmer mit dicken Filzschichten hat patentieren lassen, was dem Instrument nicht nur einen eigenen Klangcharakter gegeben hat, sondern dieser neue Klang auch noch als Wohlklang eingestuft wurde. Danach nahm die Entwicklung des Pianofortes eine steile Entwicklungskurve bis 1870. Anschließend wechselte man quasi von der Entwicklung in die Produktion bzw. Vervielfältigung und weltweite Verbreitung des Instruments. Diese wesentliche Phase des Klavierbaus erlebte und gestaltete der ursprüngliche Schreiner Philipp Gilgen.
Was man noch daraus lesen kann, ist die Tatsache, dass man damals noch einfach in das Geschäft als Pianofortefabrikant einsteigen konnte. Nun, das hat zwar erst kürzlich und somit fast 200 Jahre später der bereits oben in der Verbindung zwischen Geradsaiter und dem Una-Corda-Piano erwähnte David Klavins auch bewiesen. Doch Klavins ist im exklusiven Bereich der Designpianos, also mit Unikaten und (leider!) nicht in der Massenproduktion unterwegs. Die Pipeline der bereits existierenden sowie der noch geplanten Pianos des Konstrukteurs und Erfinders David Klavins lohnen einen genaueren Blick. Denn dort findet man das Una-Corda-Piano in mehreren Varianten als Una Corda M 189 und Una Corda EL (= Extra Light) sowie zwei Varianten eines 3,70 m sowie eines 4,50 m hohen Wandklaviers. Damit nicht genug bietet David Klavins ganz neu auch The Una Corda - Graffiti Art-Line. Ähnlich wie Philipp Gilgen oben für die Entwicklung eines Concertflügels in Palisanderholz von schönem großen Ton gelobt wurde, wird man mit Sicherheit den von David Klavins geplanten neuen Flügel loben, der über eine völlig neu entwickelte Mechanik verfügen soll. Wir dürfen gespannt sein!
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